Berg- und Talfahrt durch Tibet

Wer vielleicht noch unsere Geschichten von Erdrutschen, schrottreifen Bussen und Schotterpisten aus Nepal in Erinnerung hat, sei beruhigt. Das Reisen fernab der Großstädte ist hier zu Lande weitaus unabenteuerlicher als in Chinas Nachbarstaaten. Chinas Effizienz ist selbst in den höchsten Gegenden zu spüren: Die Straßen sind 1A geteert, großzügige Tunnel und Brücken sparen stundenlange Passüberquerungen und regelmäßige, in sehr kurzen Abständen angebrachte elektronische Geschwindigkeitskontrollen halten die Busfahrer vom Rasen ab. Zudem leuchtet uns jetzt auch ein, warum uns bei Einreise keiner mehr nach unserer genauen Route gefragt hat. Mit sechs Kameras im Bus und unzähligen Kameras auf dem 14-stündigen Weg nach Ganzi in die Berge, haben wir keinerlei Zweifel mehr daran, dass die Chinesen immer genauestens darüber Bescheid wissen, wo wir uns befinden. Wie unsere chinesischen Freundinnen gerne und überzeugt sagen: Alles nur zu unserer Sicherheit ;-) Sicher fühlen wir uns allerdings! 





In den ersten Tagen nach unserer Ankunft in Ganzi haben wir auf 3500m ganz schön mit der Höhe und der nächtlichen Kälte zu kämpfen; zusätzlich dazu plagen Timo Anzeichen von Grippe. So gehen wir unsere Tage ganz ruhig an: Einen Großteil der Zeit verbringen wir damit, die umliegende grandiose Berglandschaft und die schneebedeckten Gipfel von der Terasse unseres Hostels zu bewundern und jeden Nachmittag machen wir einen kleinen Spaziergang zu einem anderen Tempel oder einer Stupa auf den umliegenden Hügeln. Neben den in der Sonne glänzenden Golddächern fasziniert uns vor allem das Mix traditioneller wertvoller Ausstattung und moderner kitschiger Elemente im Inneren der Tempel und Stupas.





Neben den Geschäften, in denen das neueste I-phone X sowie Hightech Reiskocher angeboten werden, gibt es in Ganzi viele Läden mit Mönchsbekleidung und anderer religiöser Ausstattung wie Gebetsperlenketten, - flaggen, -mühlen etc. und wir haben das Gefühl, in ein anderes Land gereist zu sein. “Das ist Tibet!” sagen die Einheimischen und tatsächlich scheint hier im Hochland, außerhalb der Autonomen Region, die Seele Tibets weiterzuleben. Zwar sind Amdo und Kham nicht von der Kulturrevolution verschont geblieben, doch heutzutage ist die Religionsausübung in diesen beiden tibetischen Regionen Sichuans und Qinhais wesentlich freier als im eigentlichen Tibet, wo sie, Berichten zufolge, sehr streng kontrolliert und unterdrückt ist. Immer wieder fasziniert uns die Tatsache, dass entang der Strecke, die wir in den vergangenen zwei Wochen zurücklegt haben, sogar viele weitere Klosteranlagen entstehen, eine größer und großzügiger als die andere. 









Doch auch hier glänzt nicht alles, was Gold ist. Die zwei größten buddhistischen Lehrinstitute der Umgebung, Yarchen Gar und Larung Gar, mit insgesamt mehr als 15 000 praktizierenden Mönchen und Nonnen, werden traurigerweise seit 2016 im Zuge der Aufwertung der Region für den chinesischen Tourismus modernisiert bzw. “gesäubert”, wobei ein Großteil der dort lebenden Buddhisten zwangsumgesiedelt wurde (vielleicht in die neuen Klöster?) und die Behausungen zerstört wurden, um Platz für Hotels und Aussichtsplattformen zu schaffen. Konsequenterweise sind diese Orte für ausländische Touristen geschlossen; der offizielle Grund: Erdrutschgefahr. Da in Dege, dem letzten Ort vor der tibetischen Grenze, seit 2008 die meisten Selbstverbrennungen protestierender Mönche stattgefunden haben, ist es für uns unmöglich, an der Tankstelle Benzin für unseren Kocher zu erhalten, denn Benzin dürfen die Tankstellen nur direkt in Autos füllen. Da dreht sich unser Magen um.



Doch Timos Gesundheitszustand erlaubt uns vorerst sowieso nicht, trekken zu gehen. Die insgesamt eher spartanische Unterkunft, die Kälte und die Höhe erschweren seine Genesung. Nebenwirkungen der Medikamente gegen Grippe beschweren ihm zusätzliche Beschwerden und so sind wir nach ein paar Tagen ganz schön hoffnungslos, was unser Vorankommen anbelangt. Unsere spärliche Reiseapotheke ist ebenfalls schnell erschöpft und wir müssen in der Apotheke Pantomime spielen gehen, um neue Medizin zu erhalten; die Beipackzettel schicken wir an Millie, die übersetzt, wie die Medikamente einzunehmen sind. Dies sind Zeiten während derer es nicht sehr schön ist auf Reisen zu sein und man sich danach sehnt, im eigenen Bett liegen zu können. Doch wie immer folgt jedem Tal ein Berg und dank zwei sehr netter Portugiesen aus Macao, Caterina und Carlos, die sich mit uns ein Auto bis Dege teilen wollen, treten wir nach insgesamt sieben Ruhetagen vorsichtig unsere Weiterreise an. In den Bergen ist das Mieten eines Autos mit Fahrer meist die deutlich bequemere und schnellere Methode, ins nächste Quartier zu gelangen, und teilt man sich die Kosten, ist es auch nicht ganz so teuer. In diesem Fall kommen wir jedoch nicht ganz so weit, denn nach der zweiten Polizeikontrolle auf unserem Weg zur tibetischen Grenze, endet die Fahrt im Privatauto. Der offizielle Grund: Erdrutschgefahr ;-) Ein Minibus mit privatem Polizeieskort fährt uns die letzten Stunden bis nach Dege, um sicher gehen zu können, dass wir auch ja nicht in verbotene Zonen weiterfahren. Wir nehmen es gelassen - den kurzzeitigen Wintereinbruch ebenfalls. 



Nach Dege lockt uns vor allem die älteste und größte buddhistische Druckerei. Hier werden seit dem frühen 18. Jahrhundert sämtliche Texte in tibetischer Sprache per Blockdruck hergestellt. Wir haben Glück und können nicht nur die Bibliothek mit ihren 320 000 Blöcken bewundern, sondern sogar bei der Herstellung neuer Druckblöcke zusehen, die mit feinstem Werkzeug aus Holz geschnitzt werden. 







Auf Grund der spirituellen Bedeutung dieses Ortes für die Tibeter, zieht das Bakong Kloster viele Gläubige an, deren Frömmigkeit und traditionelles Aussehen uns immer wieder in ihren Bann ziehen. 










Zum Frühstück gibt es Tsampa, geröstet Gerste mit Butter, Tee und Yakjoghurt. Geschmacklich fühlen wir uns nach Nepal in die Berge zurück versetzt. 




Zum Mittagessen gibt es Thukpa, tibetische Nudelsuppe - hier mit Kinderlöffel ;-)



Während die Besucher hier oben, auf 3500m im Elektrotaxi an den vielen Neubauten vorbei zum Tempel gefahren werden und per Touchpay Spenden an die im 5G-Netz surfenden Mönche entrichten, umrunden die Tibeter in schier endlosen Runden den Tempelkomplex während sie dabei in der einen Hand ihre Gebetskette und in der anderen ihre Gebetsmühle bewegen. 






An den meisten Gebäuden steht das Geschriebene in tibetischer und chinesischer Sprache.


Manche drehen die Runden sogar, indem sie sich niederwerfen, eine Praxis, die sich noch besser auf das Kharma und somit auf das nächste Leben auswirkt. 


Im Hintergrund die traditionelle und aufwendige Thanka-Malerei, die Meter um Meter der Klosterwände ziert; im Vordergrund moderner chinesischer Kitsch. 



Das Aufeinandertreffen dieser beiden Gegensätze, dem hocheffizienten und immerzu nach Fortschritt strebendem China und der altertümlichen und gewissermaßen ineffizienten Lebensweise der Tibeter ist spannend und die Langsamkeit und das Festhalten der Tibeter an ihrer Tradition ist bewundernswert. Während ihrer Pausen bleibt den Menschen genug Zeit, um uns zu begrüßen, dank Caterinas Chinesischkenntnisse ein wenig mit uns zu reden und Fotos mit uns zu machen. Dabei ist gar nicht immer so klar, wer wen mehr fasziniert. Klar ist, dass die Tibeter spätestens, wenn wir ihnen in ihrer Sprache « Tashi Delek » (alles Gute) wünschen, bis über beide Ohren grinsen. 






Deges altes Kloster gefällt uns besonders.



In Dege verabschieden wir uns von unseren portugiesischen Mitreisenden und treten per Bus die Rückreise aus der Sackgasse nach Manigange an. Eines Tages werden wir sicherlich mal über die Grenze in die Autonome Region Tibets reisen, doch vorerst bewegen wir uns nun immer ein Stück weiter zurück nach China und ins Flachland. In Manigange unternehmen wir eine erste kleine Wanderung entlang des heiligen Sees Yilhun Lha-Tso und werden bei der Besichtigung des hiesigen Klosters von einem 28-jährigen Mönch zum Mittagessen in seine Behausung eingeladen. Zum Glück haben wir unser kleines Fotobuch dabei, mit dem wir auch ohne Worte ziemlich viel kommunizieren können, denn unsere Voice to Voice App, mit der wir sozusagen Chinesisch „sprechen können“, kennt kein Tibetisch. 




Jetzt wissen wir übrigens auch, wo die ganze Cola und die vielen Süßigkeiten, die Gläubige den Buddhas opfern, hingehen: Sie werden unter den Mönchen aufgeteilt. Timo träumt schon davon, ins Kloster zu gehen und mit seinem neuen Undercut fehlt auch gar nicht mehr so viel bis zur Mönchsfrisur ;-) 







Nicht nur am heiligen See, sondern auch entlang der Straße sehen wir immer wieder bemalte Steine. Die Steine wirken auf gleiche Weise wie Gebetsflaggen und Gebetsmühlen. Beim Umrunden der sogenannten Mani-Steine werden Gebete freigesetzt. Die Steine hier im Wasser, bemalt mit buddhistischen Schutzgottheiten, sollen Dämone fernhalten. 






In Tempeln und Privathäusern, an der Stelle, an der in Nepal und Indien meist der Dalai Lama abgebildet ist, fehlt er hier gänzlich. 



Die Weiterreise nach Yushu entpuppt sich als wahre Berg- und Talfahrt und das mehr im übertragenen Sinne des Wortes. Da es von Manigange nach Yushu keinen Bus gibt und wir auch keinen durchfahrenden Bus erwischen, entscheiden wir uns, die rund 350km per Anhalter zu fahren, denn ein Privatauto würde für die Länge der Strecke ganz schön unsere Reisekasse strapazieren. Die kleinen Ausflugsziele der letzten Tage, die wir meist zügig und problemlos per Anhalter erreicht haben, haben uns jedoch nicht gerade zu Tramp-Profis gemacht, sodass das beinahe peinliche Warten auf anhaltende Autos und die Kommunikationsprobleme mit den Chinesen oder Tibetern unsere Nerven schnell und immer wieder aufs Neue strapazieren. Doch am Ende kommen wir, nachdem wir drei verschiedene Autos genommen haben, an unser Ziel. Unsere Lieblingsmitfahrgelegenheit davon ist das erste Auto, indem wir, nachdem Timo mit Handzeichen um Musik gebeten hatte, zwei Stunden lang tibetische Mantras hören durften - besser als jedes Yogaretreat ;-) 


Eine unserer Mitfahrgelegenheiten: Ihr hättet die erschrockenen/ bewundernden/ verwunderten Augen der beiden sehen müssen, als sie meinen Riesen aus ihrem Autositz heraus erblickt haben. Die Fotogelegenheit ließen sie sich natürlich nicht entgehen. 


So verschieden und doch so ähnlich. Tibetische Mönche sind manchmal auch nur fotolustige Touristen. Noch bevor wir im Restaurant Essen bestellen konnten, waren wir sozusagen umzingelt. Was ein Spaß! 

Den kleinen Abstecher nach Yushu haben wir hauptsächlich gemacht, da wir hofften, dort einfacherweise unser Visum verlängern zu können; leider erfolglos. Der Grund dieses Mal nicht Erdrutschgefahr, sondern Papiermangel. Grrrr... Hier hat also alles Grinsen nichts geholfen; wir nehmen es gelassen, denn Mangel an Sehenswertem herrscht hier keinesfalls. Manchmal sind es die eher unscheinbaren Orte, die auf Reisen die größte Faszination bergen. Wir schließen uns den Tibetern hier beim Umrunden der weltgrößten Mani-Mauer an, die kaum mehr eine Mauer als vielmehr ein riesiges Steinlabyrinth ist. Die teuersten handbemalten Steine kosten hier tausende von Euros. 

















Am Nachmittag wandern wir durch das wohl ebenfalls weltgrößte Meer an Gebetsfahnen an einem sehr heiligen Bergkloster. Und zu unserer fast noch größeren Freude, gibt es in Yushu sogar ein nepalesisch-indisches Restaurant, indem wir Dahl, Naanbrot und Chai zu uns nehmen und das Ganze problemlos auf Englisch bestellen können. Yuhuuuuuu!!!! Verrückt! 











Jetzt befinden wir uns auf der Fahrt raus aus den Bergen nach Xining, der Provinzhauptstadt Qinghais und unserem ersten Stopp entlang der Seidenstraße. 12 Stunden lang fahren wir dabei auf dem Qinghai-Tibet Plateau fast nur geradeaus - und das auf einer Höhe von über 4000m. Die schneebedeckten 6000er in der Ferne wirken winzig; fast so winzig wie wir in diesem riesigen Land, in dem wir - ohne den Bergen den Rücken zuzukehren - mehr als 2000km zurück gelegt haben. Wir drücken die Daumen, dass wir unsere Visumsverlängerung werden realisieren können und freuen uns auf Kaffee, den es in der 2 Millionen Einwohner-„Kleinstadt“ sicherlich irgendwo geben wird, hoffen, dass die Jugendherberge vielleicht mit einem Sitzklo punkten kann und sind gespannt, welchen westlichen Reisenden wir nach mehr als einer Woche ohne Kontakt zu Unseresgleichen wohl als erstes kennenlernen werden. 

Euch wünschen wir Tashi Delek und schicken euch liebe Grüße aus Tibet! 




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