Zwischen Traum und Albtraum


„Ich rate Ihnen dringend davon ab, nach Xinjiang zu reisen,” waren die Worte unseres Visazuständigen bei der Visastelle in Xining als er uns unsere Pässe mit der Visumsverlängerung zurück gab. Auf Timos Frage, warum wir nicht dorthin reisen sollten, antwortete er: „Weil es gefährlich ist.“ Nun wissen wir natürlich, dass das so nicht stimmt und fragen uns, ob Herr Wang dies auch weiß oder ob er, wie wahrscheinlich die meisten Chinesen, fest daran glaubt, dass die dort lebenden muslimischen Uiguren eine Gefahr darstellen. Xinjiang, Chinas größte und westlichste Provinz, ist Chinas größtes Sorgenkind, da sie sich im Gegensatz zu Tibet nicht ganz so gewaltfrei unterwerfen lässt. Xinjiangs Autonomiebestreben ist China ein Dorn im Auge und das nicht nur, da durch Xinjiang Chinas alte und neue Seidenstraßen verlaufen und damit jede Menge touristisches und finanzielles Kapital einhergehen, sondern u.a. auch da sich in Xinjiang 34% von Chinas Gasreserven und rund 30% von Asiens Ölreserven befinden.


Seit 1954 versucht China die Provinz wirtschaftlich zu erschließen und die Kontrolle über die Uiguren zu gewinnen. Die Uiguren, ein Turkvolk, reagierten auf die Ansiedlung von Han-Chinesen, soziale Benachteiligung und Unterdrückung ihrer Kultur und Religionsausübung mit Protesten und Bombenattacken, bei denen regelmäßig Menschen ums Leben kamen. China ist daher bemüht, die Sicherheitslage in der Region mit allen Mitteln in den Griff zu kriegen. 2016 wurde im Rahmen dieser Bemühungen der ehemals in Tibet sehr „erfolgreiche“ Parteisekretär nach Xinjiang versetzt. Seitdem hat sich die Polizeipräsenz hier verzwölffacht und laut westlichen Medienberichten haben Unterdrückung, Inhaftierung, Zwangsarbeit, Folter und andere Verstöße gegen Menschenrechte zugenommen. Ausländern wird daher vom Reisen in diese Provinz unter dem Vorwand, gefährlich zu sein abgeraten, denn die Regierung möchte vermeiden, dass Ausländer in der Provinz herumschnüffeln. Reisen in dieser Region stellt sich daher als extrem anstrengend heraus, da manisch penible Polizeikontrollen das Reisen zu einem echten Albtraum machen. Gehört hatten wir schon davon, aber wie es dann tatsächlich sein würde, in einem Polizeistaat zu reisen, erfahren wir erst nach und nach. Das ein oder andere Mal wünschten wir uns, auf den Rat unseres Visabeamten gehört zu haben. 

Uigurische Händler vor ihrem Shop. Im Hintergrund an der Tür sieht man ein chinesisches Propagandaposter.

Han-Chinesen stellen mittlerweile fast die Hälfte der Einwohner Xinjiangs.

Bereits bei unserer „Einreise“ nach Xinjiang erfahren wir die Unnanehmlichkeiten und die Absurdität der Sicherheitskontrollen - in diesem Fall am Bahnhof. Als erstes wird uns unser Taschenmesser abgenommen, denn die Einfuhr von Messern nach Xinjiang ist verboten. Die Einwohner Xinjiangs dürfen nur eine bestimmte Anzahl registrierter Messer besitzen; Reisende dürfen keine Messer besitzen. Noch nehmen wir die Entwaffnung, die Eskorte zur Polizeistation nach Ankunft in Turpan sowie die Befragung durch die Polizei vor dem Bahnhof gelassen. Wir müssen genauestens angeben, woher wir kommen, wie lange wir bleiben, wo wir unterkommen, wohin wir reisen und was der Zweck unseres Aufenthalts ist. 

In Turpan, unserem ersten Stopp in der uigurischen Provinz, wissen wir zu Beginn gar nicht so ganz wie uns geschieht. Es fühlt sich an, als haben wir China, ohne es zu merken, verlassen, denn die Menschen hier, die uns ähnlicher sehen als den Chinesen, sprechen nur noch bedingt Chinesisch - und dabei hatten wir uns gerade so gut sprachlich eingelebt. Zudem wissen wir gar nicht recht, wie wir den Uiguren begegnen sollen. Einerseits scheint es falsch, sie auf Chinesisch anzureden, da es die Sprache der Unterdrücker ist. Doch andererseits wissen wir nicht so recht, inwieweit wir die Uiguren in ihrer eigenen Sprache anreden dürfen, denn von Büchern und Artikeln über die Lage hier wissen wir, dass Einheimische bei „Kontakt“ zu Ausländern gehörige Probleme bekommen können. Wir sind also vorsichtig und akzeptieren den Abstand, der vielernorts auch von den Uiguren ausgeht. 




Die meisten Moscheen hier sind wie die ehemaligen Karawansereien zu Museen verfallen. Da braucht es schon mal ein paar witzige Reisebegleiter wie dieses australische Ehepaar, um die Orte wiederzubeleben. 



Mehrere Reisende haben die Uiguren als kalt und unfreundlich beschrieben. Das würden wir jedoch nicht unterschreiben. Wir erinnern uns an viele nette, wenn auch kurze Begegnungen, u.a. mit Taxifahrern, die gerne mal das Handy rausholen und uns im Livechat ihrer Familie vorstellen, mit stolzen Garküchenbetreibern, die sich riesig freuen, dass wir bei ihnen essen, mit Kindern, die uns im Bus Kaugummi anbieten und vielen anderen, denen wir doch ein breites Grinsen entlocken können, wenn wir die türkischen Zahlen benutzen und sagen, dass wir aus „Germania“ kommen. 





Doch insgesamt ist die Stimmung, vor allem in Kuqa, unserem zweiten Stopp in Xinjiang, sehr gedrückt, denn Unterdrückung und Überwachung machen sich überall bemerkbar. Die Polizeipräsenz und die Kontrollmaßnahmen erreichen in Kuqa ihren Höhepunkt: Allernorts muss man sich vor dem Einsteigen in lokale Busse, beim Betreten von Restaurants, Supermärkten, Geschäften und Hotels einer Sicherheitskontrolle unterziehen und während unseres Aufenthalts kommen wir mit dem Zählen der Passkontrollen und Befragungen kaum nach. Für Ausflüge benötigen wir teure Genehmigungen und das Zählen der Kameras vor allem in der Altstadt und um die wenigen noch existierenden religiösen Gebäude haben wir längst aufgegeben. 

Unsere Geduld wird ein vorerst letztes Mal auf die Probe gestellt, als wir von Kuqa nach Kashgar reisen. Dieses Mal entdecken sie bei den Sicherheitskontrollen am Bahnhof unser Radreperaturset, an dem dummerweise ein Messer angebracht ist. Alles Aufregen bringt nichts: Weg ist es - und unsere Feuerzeuge und Gasflasche ebenfalls. Es ist krass, wie machtlos man sich fühlt, den Obrigkeiten derart ausgeliefert zu sein. Während Timo sein Bestes gibt und es schafft, den Chinesen, stets im Einklang mit der Harmonie, nachzuahmen, gebe ich der Gefahr des Gesichtsverlusts nach und beschwere mich nach deutscher Manier lauthals. 

Zum Glück kann man in den chinesischen Zügen so gut entspannen...

Doch Kashgar entschädigt in gewisser Weise für die Unannehmlichkeiten, denn es scheint zumindest als könnten die Menschen hier ihrem traditionellen Alltag nachgehen und als leben Xinjiangs Seele und der Islam hier ein wenig weiter. Beispielsweise kommen seit eh und je jeden Sonntag Uiguren beim Viehmarkt oder beim Sonntagsbazaar zusammen. Horden an Kühen und Ziegen, kiloweise Gewürze, Tee und Trockenfrüchte und Meterware Seide und Teppiche und natürlich gefakte Markenklamotten werden hier gehandelt. Der Anblick der vielen Männer mit traditionellem Kopfschmuck und das Duftgemisch von Kreuzkümmel, Rosen und Chili bezaubern uns und es macht riesigen Spaß beim Geräusch der meckernden Ziegen und muhenden Kühe Kichererbsensalat, wunderbar saftige Wassermelonen und knusprige mit Lammfleisch gefüllte Teigtaschen zu probieren. 


Auch für mich ist etwas dabei ;-)








Samsas - mit Lammfleisch gefüllte Teigtaschen


In der, wenn auch größtenteils restaurierten (d.h. von den Chinesen zerstörten und wiederaufgebauten) Altstadt, entdeckt man, wenn man sich im Gassengewirr etwas verliert, hier und da alte Türen und Gemäuer, bei deren Anblick wir zu gern wüssten, was die Menschen dahinter erlebt haben. Und bei einem Glas Tee begleitet von stimmungsvoller türkischer Musik schwappt ein wenig des orientalischen Flairs über, was Kashgar einst zu der traumhaften Seidenstraßenoase gemacht haben muss, von der wir in den Reisebrichten Marco Polos lesen. 









Doch so mancher Schein trügt auch hier. Wir erfahren beispielsweise, dass sich die Religionsausübung wie der Besuch der Moschee zum Freitagsgebet und das Barttragen bei Männern, schlecht auf das Sozialkreditsystem der uigurischen Lokalbevölkerung auswirken. Positiv hingegen wird beispielsweise registriert, wer montags zum gemeinsamen Singen der chinesischen Nationalhymne antritt und somit zur Realisierung des chinesischen Traums, wie es dieses Propagandaposter bewirbt, beiträgt: „Dein Traum, mein Traum, sein Traum, der Traum von 1,3 Milliarden. Das ist der chinesische Traum. Der chinesische Traum ist dein Traum, mein Traum, sein Traum; der Traum von 1,3 Milliarden Menschen.“ Wenn wir derartiges Hören oder Lesen wird uns ganz anders.


Beim Eingang der Moschee registrieren Kameras per Gesichtserkennung, wer zum Beten kommt.

Bereits in Turpan haben wir uns entschlossen, unsere Zeit in Xinjiang ein wenig abzukürzen. Eigentlich wollten wir von Kuqa entlang der südlichen Seidenstraße über Hotan nach Kashgar reisen, denn auf diese Weise hätten wir per Bus die Takklamakan-Wüste durchquert, was bestimmt beeindruckend gewesen wäre, denn die Takklamkan allein ist so groß wie Deutschland. Doch in Hotan gibt es keine Hotels, die Ausländer aufnehmen dürfen. Zudem wissen wir, dass wir auf unserem Weg gen Europa noch so viele wundervolle Orte, Kulturen und Menschen treffen werden, dass wir nach fast sieben Wochen in China diesem Land und seiner Ideologie den Rücken kehren und uns von Mao verabschieden. 


 Wir haben dieses Mal lange durchgehalten, waren wir auf vorherigen Reisen doch meist schon nach zwei Wochen soweit, China verlassen zu wollen. Doch irgendetwas war dieses Mal anders und lange Zeit haben wir das Reisen durch China enorm genossen. China ist insgesamt um einiges sauberer geworden und es kam uns vor als ob die Menschen nicht mehr so viel in der Öffentlichkeit rülpsen, furzen und würgen. Bei fast allen Sehenswürdigkeiten, die wir uns angeschaut haben, fehlten die Massen, denn wir waren noch vor der Hochsaison unterwegs und dank der Chinesischkenntnisse, die wir erworben haben, hat sich uns eine super leckere vegetarische kulinarische Vielfalt eröffnet. Ironischerweise waren es dieses Mal also nicht die Milliarden Chinesen an sich, die unsere Schmerz- und Toleranzgrenze strapaziert haben, sondern vielmehr die eine Partei und das politische System.  

Einer letzten Herausforderung werden wir uns morgen an der Grenze zu Kirgistan stellen, denn von anderen Reisenden wurden wir bereits davor gewarnt, dass bei der Ausreise auf dem Landweg sämtliche elektronische Geräte nach unliebsamer Kommunikation über China/Xinjiang, kritischen Suchverläufen und inakzeptablen Bildern gescannt werden. Durch das Reisen in dieser Provinz haben wir einmal mehr gelernt, was Freiheit bedeutet und wissen nun umso mehr unsere Privatsphäre, unser Recht auf Meinungsäußerung und unsere Bewegungsfreiheit zu schätzen. Vor allem letzterer sehnen wir uns auf der anderen Seite des Pamir entgegen. Ein kleiner Vorgeschmack lieferte unser Ausflug entlang des Karakorum-Highways nach Taxkurgan, den wir eines Tages sicherlich auch auf pakistanischer Seite entdecken werden. Doch das bleibt vorerst nur ein Traum...







Unseren letzten Tag in Kashgar bzw. China haben wir also damit zugebracht, unsere Bildersammlungen, Notizen, Whatsapp-Kommunikation und Google-Suchverläufe zu bereinigen und unsere Blogger-App, Google Fotos, Facebook (Messenger) und Instagram gelöscht. Und als kleinen Gack haben wir Bilder mit der Maostatue gemacht und uns chinesische Flaggen gekauft, die wir morgen an unsere Rücksäcke stecken werden - das dürfte die parteitreuen Grenzbeamten sicherlich von unserer uneingeschränkten Begeisterung von China überzeugen. Ganz geheuchelt ist es ja schließlich auch nicht und ein bisschen Spaß muss sein ;-)

Drückt uns die Daumen, dass es wirkt...










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